Verein für Heimatkunde Gunzenhausen e.V. | Gegründet 1879
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„Vaterlandsloses Gesindel“
Monika Wopperer skizziert die Anfänge der SPD in Gunzenhausen
Die älteste demokratische Partei in Deutschland ist die SPD. So auch in Gunzenhausen. 1906 ist sie gegründet worden. Zwar haben sich der Lokalhistoriker Wilhelm Lux und der Stadtrat Richard Schwager in früheren Veröffentlichungen bemüht, die Gründungsjahre der traditionsreichen Partei aufzuzeigen, aber in der komplexen Form geschieht dies erst jetzt durch Monika Wopperer in „Alt-Gunzenhausen“, dem Jahrbuch des Vereins für Heimatkunde. Die frühere SPD-Stadträtin hat dafür als Titel den Spottnamen des „Vaterlandslosen Gesindels“ gewählt – eine Abwandlung der Wortschöpfung von Kaiser Wilhelm II., der wahrlich kein Freund der Sozialdemokratie war und sie als „vaterlandslose Gesellen“ schmähte.
Die Umstände am Ende des 19. Jahrhunderts waren nicht eben günstig für die Gründung einer „Arbeiterpartei“ in einem konservativ-ländlichen Umfeld. Sozialdemokraten wurden damals als „Bürgerschreck“ wahrgenommen. Mit den marxistischen Theorien und der Gegnerschaft zu den Kirchen konnte die bürgerliche Gesellschaft nichts anfangen. Das Bezirksamt (heute: Landratsamt) bemerkte 1890, dass nur einzelne Personen angehören, nicht einmal solche unter den „besitzlosen Landarbeitern“. Die Industriealisierung setzte nur langsam ein, es gab nur die Maschinenfabriken Hagenah und Bing, die Tonofenfabrik, die Imprägnieranstalt und das Hafernährmittelwerk, so dass die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter nur eine geringe Rolle spielte.
Als „Sozialdemokratischer Verein“ ist die lokale Parteigliederung am 31. Dezember 1906 im Gasthaus Schachner in der Hensoltstraße (später Gasthaus Eiden, heute „Goldener Drache“) gegründet worden, wo jeden ersten Sonntag im Monat Versammlungen stattfanden. Der Hafnergeselle August Michael Sörgel war der erste Vorsitzende, der Maurer Johann Habermann sein Stellvertreter, der Gastwirt Georg Schachner wird als Kassier genannt, der Maurer Michael Segets und der Brauer Friedrich Elz als Schriftführer. Und wieder äußerte sich das Bezirksamt gegenüber der Regierung kritisch zur neuen Partei: „Ob es der Sozialdemokratie gelingen wird, in dem einer größeren Industrie entbehrenden Gunzenhausen einigermaßen aufzukommen, ist noch fraglich“. Überdies verfügte der Stadtmagistrat, die monatlichen Versammlungen zu überwachen, was der Polizeioffiziant Griesmayer gewissenhaft tat. Die Parteigründer hatten es ohnehin schwer. Beispielsweise war es den Angehörigen des Militärs verboten, in bestimmen Lokalen in Uniform einzukehren, denn man wollte die Soldaten aus dem Umfeld der Sozialdemokraten fernhalten.
Im bürgerlichen Lagen hatten die Sozialdemokraten wenig Freunde. Der Zentralausschuss vereinigter Innungsverbände in Deutschland brachte die Handwerker in Stellung und erklärte die Sozialdemokratie zum gefährlichsten gemeinsamen Feind des Kleingewerbes („Nichts kann verderblicher sein, als diese Partei noch mehr zu stärken“). Wie sehr die Partei im ländlichen Umfeld nur eine Nebenrolle spielt, offenbart das Ergebnis der Reichstagswahl von 1907, als die SPD in Gunzenhausen nur etwa zehn Prozent der Stimmen bekam, im ganzen Reichsgebiet jedoch mit 28,9 Prozent am stärksten war.
Die Vorsitzenden des neuen Vereins wechselten in der Startphase mehrfach. 1907 wird beispielsweise der Schreiner Johann Sept genannt. Ihn und seine Vorstandsmitglieder nannte der Lokalhistoriker Wilhelm Lux „ehrliche und idealistisch gesinnte Männer, die mit großer Treue an ihrer Partei hingen“. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs zählte der Verein 52 Mitglieder. Der Maurer und Schlosser Ludwig Farthöfer konzentrierte mehrere Ämter auf sich: Parteivorsitzender, Gewerkschaftsvorsitzender, AOK-Ausschussmitglied und Stadtrat (1919-1924). „Legendär“ ist sein Aufruf 1919: Nieder mit der Morchanie! (Die Wortwahl ist nach der Schilderung von Wilhelm Lux auf einen leichten Sprachfehler des Genossen zurückzuführen).
Weil den vielfach von der bürgerlichen Gesellschaft ausgegrenzten Genossen der Zugang zu vielen Vereinen erschwert wurde, bauten sie quasi als Gegenkultur ein eigenes Vereinswesen auf. Dazu zählte der Arbeiter-Turnverein (1908), die Allgemeine Ortskrankenkasse, der von Mathias Hunger, dem Weinbergswirt, geleitete Männergesangverein (1910), der Arbeiter-Radfahrerverein „Solidarität“ (1921), das Gewerkschaftskartell. Schließlich gründete die Arbeiterschaft 1911 den Konsumverein, dem sich 95 Genossen anschlossen. Das Angebot richtete sich – so die Feststellung der Autorin Monika Wopperer – vornehmlich gegen den kleinbürgerlichen Einzelhandel mit seinem höheren Kostenniveau und war nur für die Gewerkschaftsmitglieder bestimmt (Anzeige von 1912: Der Consum-Verein empfiehlt den Mitgliedern ff Arac, ff Cognac, ff Kräuterlikör und versch. Krankenweine zur gefl. Abnahme“).
Den ersten Streik organisierte die Arbeiterschaft 1909, als die Tonofenfabrik (Nürnberger Straße 47) die Ausschussware den Arbeitern vom Lohn abziehen wollte. 37 Organisierte (von 52 Beschäftigten) legten die Arbeit vom 4. Juni bis 20. September (!) nieder. In einem Anzeige wird herausgestellt: „Redefreiheit zugesichert!“ Und daneben stand: „Auch die Herren Fabrikanten möchten erscheinen“.
Wohl verhielten sich die Gewerkschaften in Deutschland gegenüber dem aufziehenden Ersten Weltkrieg zunächst distanziert, aber letztlich verfing doch die Taktik der Herrschenden, das Deutsche Reich als Opfer einer russischen Aggression darzustellen. Im „Vorwärts“, der Parteizeitung, war zu lesen: „Wenn die verhängnisvolle Stunde schlägt, werden die vaterlandslosen Gesellen ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen.“
Zum Eintrag: Alt-Gunzenhausen | Heft 78 / 2023